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Retrospektive: DIE IDEE IST GUT, DOCH DIE WELT NOCH NICHT BEREIT

Das Transit Filmfest öffnet 2024 den Giftschrank und wagt den Blick zurück auf seiner Zeit vorauseilendes Kino. Passend zum Regensburger Kulturjahr “Katzenjammer” zeigt die historische Sektion mit dem vermeintlich resignativen Titel DIE IDEE IST GUT, DOCH DIE WELT NOCH NICHT BEREIT Filme, die zu ihrer Entstehungszeit oft missverstanden, zensiert oder gar verbannt wurden. Aus heutiger Sicht ebneten sie den Weg für neue ästhetische und politische Denkweisen. In einer dreiteiligen Werkschau ehrt Transit die Regisseurin Monika Treut, die persönlich nach Regensburg kommen wird. Das Nürnberger Glisten Collective vertont Queere Avantgardefilm-Klassiker live im Kino im Andreasstadel.

Historischen Startpunkt der Reihe bildet Tod Brownings missverstandener Klassiker FREAKS von 1932, in dem eine kuriose Zirkustruppe von echten Menschen mit Behinderung gespielt wurde. Während das zeitgenössische Publikum ob der eigenen Distanziertheit zutiefst verstört war, gilt FREAKS heute als bahnbrechendes Werk, das für Solidarität unter Ausgegrenzten plädiert und uns mit einem klaren, empathischen Blick auf das “Andere” konfrontiert.

Georges Franjus EYES WITHOUT A FACE (LES YEUX SANS VISAGE, 1960) stellte die Nouvelle Vague vor eine Herausforderung und verwebte poetischen Realismus mit verstörendem Gore. Das Publikum des neuen französischen Kinos war geschockt, die Kritiker*innen fanden Franjus Explizität geschmacklos. Heute gilt EYES WITHOUT A FACE als Vorläufer des Body Horror – ein Genre, das dem menschlichen Körper und seiner Zerbrechlichkeit eine poetische Dimension verleiht.

Mit seiner wilden Ästhetik und einem feministischen Unterton war Věra Chytilovás TAUSENDSCHÖNCHEN (SEDMIKRÁSKY, 1966) seiner Zeit und dem sozialistischen Regime der Tschechoslowakei weit voraus. Nach dem Prager Frühling wurde der visuell überbordende, “verschwenderisch” inszenierte Film als Angriff auf das System verstanden, über die Regisseurin wurde ein Berufsverbot verhängt.

NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION IN DER ER LEBT (1971). Rosa von Praunheims radikaler Titel allein war eine Kampfansage an die bürgerliche Moral. Mit dem Film führte er die Debatte über Homosexualität und gesellschaftliche Ausgrenzung in das westdeutsche Kino ein. Was als Provokation gedacht war, löste eine Welle von öffentlichem Diskurs aus und trug maßgeblich zur Emanzipation der queeren Community bei. 

Als erster afrikanischer Spielfilm, der von einer Frau gedreht wurde, war SAMBIZANGA 1972 ein politischer Paukenschlag. Sarah Maldoro erzählt darin die Geschichte eines antikolonialen Aufstands in Angola und wurde von den Machthabern sofort als Bedrohung wahrgenommen. Maldorors Werk ist ein wichtiger, aber wenig bekannter Klassiker des antikolonialen Widerstandskinos.

John Waters’ FEMALE TROUBLE (1974) ist eine radikale Absage an Konventionen und gesellschaftliche Schönheitsideale. Drag-Ikone Divine machte den Film seinerzeit zu einer Feier des schlechten Geschmacks, des Exzesses, und des Chaos – ein Skandal! Heute gilt er als kraftvolles Manifest der Selbstermächtigung gegen die gesellschaftliche Normierung von Identität und Schönheit.

Liliana Cavanis DER NACHTPORTIER (IL PORTIERE DI NOTTE) sprengte die Grenzen des Kinos von 1974 mit einer Kühnheit, die bis heute atemlos macht. Mit der radikalen Verknüpfung von Erotik und den Traumata der NS-Zeit wagte die linksintellektuelle Cavani das Undenkbare: In einem unbedingten Willen zur Kunstfreiheit entblößte sie die Abgründe menschlicher Begierde, Macht und Schuld mit einem Tabufilm, der sowohl politisch als auch ästhetisch herausforderte. 

JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES ist der beste Beweis dafür, dass der sogenannte “Kanon” in der Filmgeschichte nicht festgeschrieben ist. Als Chantal Akerman ihren Film im Jahre 1975 veröffentlichte, wurde er von der meist männlichen Kritik als langweilig und bedeutungslos abgetan. Heute zählt der minutiös inszenierte Blick auf die unsichtbare Arbeit einer Hausfrau zu den größten Meisterwerken der Filmgeschichte. 

Den anarchischen Abschluss der Retrospektive bildet Gregg Arakis Punk-Roadmovie THE DOOM GENERATION. 1995 als moralisch verwerflich und zu gewalttätig abgestempelt, wird der Film heute als wegweisendes Beispiel des New Queer Cinema gefeiert. In schrillen Bildern reflektiert Araki den nihilistischen Zeitgeist einer Generation, die sich von den Normen einer brutalen Gesellschaft abwendet. Das Transit Filmfest zeigt den Film frisch restauriert und in einem 13 Minuten längeren Director’s Cut.

Werkschau: Monika Treut

Im Rahmen der Retrospektive DIE IDEE IST GUT, DOCH DIE WELT NOCH NICHT BEREIT widmet das Festival der unerschrockenen deutschen Avantgarde-Regisseurin und Impulsgeberin des New Queer Cinema Monika Treut eine lustvoll-subversive Werkschau. In Anwesenheit der Regisseurin und mit anschließenden Filmgesprächen werden drei Filme gezeigt. 

Gleich mit ihrem Debüt setzte Monika Treut eine Duftmarke im deutschen Kino. Von Konservativen leidenschaftlich als “Zumutung” und “Perversion” angefeindet und auch in lesbischen und feministischen Kreisen kontrovers diskutiert, wird das sadomasochistische Liebesdrama VERFÜHRUNG – DIE GRAUSAME FRAU (1985) um eine geheimnisvolle Domina und ihre devoten Bottoms heute als avantgardistische Perle des queeren Indie-Kinos gefeiert. Das exzentrische Ensemble umfasst unter anderem den deutschen Schauspieler Udo Kier, Pina Bauschs Primadonna Mechthild Grossmann sowie den österreichischen Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel.

Monika Treuts zweiter Spielfilm DIE JUNGFRAUENMASCHINE erzählt in Schwarz-Weiß-Bildern von der Journalistin Dorothee Müller, die auf der Suche nach dem Wesen der romantischen Liebe eine Affäre mit einer Stripperin beginnt. Bei der deutschen Premiere im Oktober 1988 machten die deutsche Feuilletonisten bei der Beurteilung keine Gefangenen: „Filme wie der von Monika Treut vernichten das Kino.“ Im Ausland kam die selbstbewusste und gleichzeitig humorvolle Auseinandersetzung mit Sex und Lust dagegen glänzend an. Daraufhin zieht Monika Treut nach New York und findet ihre neue Heimat im New Queer Cinema.

Über die queere Community in den USA macht Monika Treut Bekanntschaft mit faszinierenden nichtbinären Künstler*innen, die zu den Protagonist*innen ihres bekanntesten Dokumentarfilms werden. Als einer der ersten Filme über die Transbewegung überhaupt, erforscht GENDERNAUTS (1999) nicht nur das Überwechseln von der in die andere Gender-Identität, sondern auch die große Bandbreite zwischen den Polen männlich und weiblich. Die positive und hoffnungsvolle Repräsentation von trans* Menschen gilt für viele noch heute als identitätsstiftend.

Queere Avantgardefilm-Klassiker + Live-Musik des GLISTEN COLLECTIVE

Die westliche Filmavantgarde der 1940er bis 1960er Jahre war stark durch queere Protagonist:innen geprägt, die ihre Ästhetik und ihre Sichtweisen in die filmische Undergroundkultur einbrachten. Alle drei Filme waren immens einflussreich für spätere Generationen queerer Künstler:innen. Sie werden live musikalisch begleitet durch die Elektronik- und Experimental-Musiker*innen S.U.V., Awkward Mud und Alexan‘dru Șalariu.

In Kenneth Angers FIREWORKS (1947) kommen sado-masochistische, homoerotische Fantasien zum Ausdruck, die im Zwischenreich von Traum und Realität stattfinden. UN CHANT D’AMOUR (1950), die einzige Regiearbeit des Schriftstellers Jean Genet, erzählt eine erotische Liebesgeschichte zwischen zwei Gefängnishäftlingen. FLAMING CREATURES (1963) ist ein von der trans- und Drag-Szene New Yorks inspiriertes, campes Spiel mit Grenzüberschreitungen des Underground-Filmemachers Jack Smith.

Die Filme der Retrospektive DIE IDEE IST GUT, DOCH DIE WELT NOCH NICHT BEREIT (chronologisch):

FREAKS
Tod Browning | USA 1932 | 64‘

FIREWORKS
Kenneth Anger | USA 1947 | 20′

UN CHANT D’AMOUR
Jean Genet | FRA 1950 | 26′

EYES WITHOUT A FACE (LES YEUX SANS VISAGE)
Georges Franju | FRA/ITA 1960 | 90‘

FLAMING CREATURES
Jack Smith | USA 1963 | 45′

TAUSENDSCHÖNCHEN (SEDMIKRÁSKY)
Věra Chytilová | ČSSR 1966 | 76‘

NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION IN DER ER LEBT
Rosa von Praunheim | BRD 1971 | 67′

SAMBIZANGA
Sarah Maldoror | AGO/FRA 1972 | 97′

FEMALE TROUBLE
John Waters | USA 1974 | 97‘

DER NACHTPORTIER (IL PORTIERE DI NOTTE)
Liliana Cavani | ITA 1974 | 118‘

JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES
Chantal Akerman | BEL/FRA 1975 | 202‘

VERFÜHRUNG – DIE GRAUSAME FRAU
Monika Treut | BRD 1985 | 84′

DIE JUNGFRAUENMASCHINE
Monika Treut | BRD 1988 | 84′

THE DOOM GENERATION
Gregg Araki | USA/FRA 1995 | 83‘

GENDERNAUTS – EINE REISE DURCH DAS LAND DER NEUEN GESCHLECHTER
Monika Treut | DEU 1999 | 86′

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